Als wäre es doch ein Teil vom eigenen Körper

Annelie Pohlen

Im Zentrum des Werkes von Hannah Villiger steht die Auseinandersetzung mit dem Körper. Dass dieser in ihren letzten Werkgruppen nicht oder nur marginal anwesend ist, verblüfft und könnte zu einer Untersuchung unter den besonderen Bedingungen ihrer biografischen wie ihrer künstlerischen Existenz verführen. Die Vermutung, dass die Künstlerin, ihren Tod vorausahnend, den Körper verschwinden liess, erscheint naheliegend. Indes, derartig aufgeladene Reflexionen stehen in krassem Gegensatz zur verführerischen Schönheit der ganz auf die Form- und Farbwertigkeit des textilen Stoffes gerichteten Arbeit.

Der Blick auf ihr vielschichtiges wie stringentes Gesamtwerk erlaubt eine differenziertere Sehweise und rückt Hannah Villigers frühe Auseinandersetzung mit der sinnlichen Präsenz textiler Materialien in ihrer alltäglichen wie künstlerischen Wirklichkeit in einen um die Erfahrung des Gesamtwerkes bereicherten Blickwinkel. Gleich zu Anfang sei die Feststellung erlaubt, dass aus dieser Perspektive Hannah Villigers Einsatz des fotografischen Mediums zur Erzeugung skulpturaler Formationen von hoher sinnlicher Ausstrahlung und subtiler geistiger Konsistenz auf besonders hintergründige Weise zum Ausdruck kommt.

Skulptural sind die 1996 entstandenen Polaroids bezeichnet. Dies verbindet – wie Block als Titel für die mehrteiligen grossformatigen Werke – die Polaroids mit den früheren, auf ihren Körper konzentrierten Arbeiten. Skulptural lautete auch der Titel ihres Kataloges zur Ausstellung im Museum für Gegenwartskunst Basel von 1989. Auffällig neben der inhaltlichen Dimension ist hier der „formale“ Umgang mit der Sprache. Über die Transformation eines Eigenschaftswortes zum Hauptwort gelingt eine wirksame Steigerung des skulpturalen Prinzips. So verweist noch ihr Umgang mit der Sprache als Rohstoff auf ihr künstlerisches Konzept. Bis in die letzte Werkgruppe ist die Erforschung der Form als Transformation physischer und geistiger Existenz ein wesentlicher Kristallisationspunkt ihrer Vorstellung vom Werk.

In diesem Zusammenhang ist das Körpergedächtnis von entscheidender Bedeutung. Wo in den vorausgehenden Werkgruppen die Haut als schützende Oberfläche den in höchste Spannung versetzten Körperpartien zu plastischer Form verhilft und folglich das nachvollziehbare physische Körpererlebnis in eine ästhetische Erfahrung transformiert, da fordern ihre letzten Werkgruppen dieses Körpergedächtnis auf eher stille und vermeintlich unspektakuläre Weise heraus. Das Auge folgt den sich bauschenden, linearen und konzentrischen Strukturen der Stoffe und tastet die über eine raffinierte Lichtführung erzeugten plastischen wie malerischen Formationen ab. Intuitiv folgt der Körper den Impulsen seiner vielfältigen Erinnerung an das sinnliche Erleben stofflicher Materialien. „Ich sehe meine Polaroidvergrösserungen gar nicht so sehr fotografisch; ich sehe sie mehr als Haut oder als Materie“, also Stoff, sagt Hannah Villiger in einer Diskussion 1997. Und ein wenig später: „Beim Arbeiten wird mein Körper zum Objekt, zu meinem Arbeitsmaterial. Ich manipuliere ihn, er konditioniert mich: Bei Krankheit ist er unbrauchbar, gewisse Stellungen oder, besser gesagt, Faltungen sind einfach nicht machbar.“ Man kann daraus folgern, dass Hannah Villiger sich dem textilen Rohstoff zuwendet, da ihr physischer Rohstoff zunehmend untauglicher wurde. Überblickt man das Gesamtwerk, dann gilt eher die umfassendere Feststellung, dass ihre Aufmerksamkeit – in den Anfängen mehr noch als später –, immer auch den Gegenständen ihrer nächsten Umgebung gilt: Es sind Pflanzen, Gebrauchsgüter, Textilien, plastisches Material eben, und, wie zuvor angemerkt, die Sprache. All dies zählt zum Vertrauten oder besser, zum annähernd Vertrauten. Nicht zuletzt aus diesem Blickwinkel ist die Anwesenheit oder Abwesenheit des Körpers im Werk von Hannah Villiger immer zugleich biografisch-existentiell und immanent künstlerisch. Der Stoff lässt sich als eine den Körper schützende Haut ansehen. Vor allem aber signalisieren die Stoffe in den letzten Werken die diesen Textilien immanente Eigenschaft für einen Formprozess, der einen Entwurf von fragiler, flüchtig greifbarer Schönheit ermöglicht.Textiler Stoff vor allem ist weich, formbar, taktil, also plastisch, beweglich, nicht definitiv im Faltenwurf. Unter all den Gebrauchsgegenständen des Alltags ist der textile Stoff dem Körper immer am nächsten. Schon die Geschichte der abendländischen Kunst führt vor, in welchem Masse dieser als Fokus ideeller wie formaler künstlerischer Entwürfe diente.

In den frühen siebziger Jahren entwarf Hannah Villiger auch Kleider; Einzelstücke hat sie an eine Boutique in der Zuger Altstadt verkauft. Ihr Verhältnis zur eigenen Kleidung war nach Aussage von Freunden bestimmt von hohem Anspruch an ausgesuchte Schönheit. Die Abbildungen besagter Textilentwürfe zeugen von der für das künstlerische Werk entscheidenden Sensibilität für den Stoff als komplexes plastisches Material. Unter formalen wie ideellen Aspekten liegt es nahe, die vergleichende Betrachtung von textilem Stoff und Haut um den Verweis auf ihre Anpassungsfähigkeit und Dehnbarkeit zu erweitern. In beidem ist das Weiche, das Formbare eine Qualität von hoher Sympathie. Anpassungsfähigkeit als solche birgt zugleich die Gefahr harmonisierender Beruhigung. Die Dehnbarkeit der Haut ist wie die des Stoffes begrenzt. Wo sie überdehnt werden, bilden sie Formen, die alsbald wieder verschwinden. Hannah Villiger lotet diese Dehnbarkeit bis an die Grenze des dem Rohstoff Zumutbaren aus. Materiell ist diese Grenze durch die physischen Bedingungen des Stoffes bestimmt. Künstlerisch ist die Grenze dort gezogen, wo die vom antinormativen Denken und Handeln geleitete Erforschung einer Vorstellung von Schönheit sich selbst in purer Deklamation erschöpfen und der Lächerlichkeit preisgeben müsste. Diesem Wissen um die Grenze folgt die ambivalente Vorstellung von der flüchtigen Form der Materie, des Stoffes – sei dieser menschlicher Körper, alltäglicher Gegenstand,Sprache oder eben edel anmutendes Textil. Die Grenze auslotend, erforscht das Werk auf ebenso verführerisch-poetische wie kunstimmanent konzeptionelle Weise die möglichen Fundamente der idealen plastischen Form und der idealen physischen Existenz. Beide sind virtuelle Kreationen im Werk und als solche flüchtig zwischen Dasein und Verschwinden. Die Polaroids aus dem Jahr 1996 sind auch in diesem Sinne Ausdruck einer komplexen skulpturalen Erfahrung. Ob ihr der eigene Körper für die Erforschung der körperlichen, d. h. der materiellen, der sinnlichen, d. h. der emotionalen, und der geistigen, d. h. der virtuellen Energie nicht mehr brauchbar erschien, sei dahingestellt. Die Rolle des immer auch biografisch bestimmten Körpers jedenfalls übernimmt der textile Rohstoff in einer Weise, die das Körpergedächtnis ebenso wie die kulturelle Erfahrung und nicht zuletzt die Erinnerung an die Schönheitsvorstellungen der grossen Meisterwerke der abendländischen Tradition gleichermassen herausfordert. So treffen Zeitlosigkeit und Virtualität, sinnliche Erfahrung und die Auflösung des Materiellen in der Vorstellung von Form und Existenz in den Arbeiten von 1996 auf sinnlich-verführerische und zugleich distanzierend-reflexive Weise aufeinander. Das Instrument zur Steigerung dieser Facettierung ist bis zuletzt die Polaroidkamera. Sie vermag es, das Flüchtige für einen Moment so dauerhaft erscheinen zu lassen wie die Vorstellung von einer Art gestaltetem Lebensentwurf.