HANNAH und der Horizont

Bice Curiger

Wenn es darum geht, Körpergefühle aller Art zu beschreiben, sind wir mit unserer Sprache recht arm dran. Dies stelle ich fest, nach etlichen dauernd zu krass ausfallenden Versuchen, Grundmomente in Hannah Villigers Werk zu beschreiben. Was man in der Allgemeinheit so fähig ist zu registrieren: Ekelgefühle oder das heftige Mitempfinden, wenn im Kino Blut fliesst, skalpelliert, operiert wird, dann die Erotik, Schwindelgefühle auf dem Aussichtsturm und der Sport – Punkte auf einer Skala, die gut bezeichnet, benannt sind, aber dazwischen sind immense Mikroreiche, Deadlands, wo das Sagen schwierig wird. Dort arbeitet Hannah Villiger, aus einem klaren Wissen heraus, das sich souverän durch das allgemeine Verhinderungssystem (des Verunmöglichens und Schwächens) schlägt. Wem das Mitteilen dauernd unterbunden wird, der greift zur Metaphorik. Vielleicht erscheint Hannah Villigers Arbeit auch deshalb als weiblich und stark.

Es ist vorstellbar, dass das Schwindelgefühl, welches in der Vertikalen (vor dem Abgrund) einsetzt, in der Horizontalen eine sanfte Entsprechung hat; eine Art Fenstergefühl. Wenn’s stark wird, spürt man es in den Nüstern, in den Ohren, in der Brust oder (verbunden mit Geschwindigkeit) im Gesäss. Der Fixpunkt ist nicht der Abgrund, sondern der Horizont. Als Kind habe ich mir bei den Sonntagsausflügen hinten im Auto zuweilen vorgestellt – besonders in den Kurven, und wenn es schnell ging –, ich würde auf einem Fahrrad sitzen, weil ich selber nie eines geschenkt bekam. Hannah Villiger kann es ohne Fahrzeuge. Daran muss ich denken, wenn ich ihre Fotos vom herausschiessenden Wasser, von den schnellen Vögeln, den zusammenstossenden Bocciakugeln sehe. Da ist auch der lautlose, gedrungene Zeppelin, der am Himmel verharrt, oder das brennende, in die Luft geworfene Palmblatt. Hier werden Möglichkeiten der Empathie lustvoll und äusserst subtil eingesetzt. Einfühlung, um sich seiner Möglichkeiten bewusst zu werden und gleichzeitig Teil eines Ganzen zu sein.

Die neueren Arbeiten Hannah Villigers (etwa die vergrösserten Farbpolaroids) halten nicht mehr die heftigen Momente direkter Übertragung physischer Empfindungen fest, sie sind ruhiger geworden. „Er hatte Zähne wie Luxushotels am Strand von Florida, und wenn er den Mund schloss, entstand eine grosse Narbe“ (Laurie Anderson). Diese meist ein Quadratmeter grossen Farbfotografien erscheinen einem beim längeren Betrachten immer mehr als regelrechte Kästen. Kästen, in die man ganz langsam den Kopf steckt, ohne dass man’s merkt, weil ihre Sogwirkung ganz zart ist. Und feuchte Nebel, spitze Palmblätter, Haut oder Blicke berühren einen, streifen vorbei. Aber es gibt auch Bilder, die ihre Kraft nach aussen richten, die abstrahlen und einen schon von sehr weitem auf Distanz halten. Es sind dies die kalten Bilder, wie etwa das Augenbild mit dem messerscharfen Blick. Wer davor gestanden ist, weiss, dass das Format dieser Fotografien unumstösslich ist.

Manchmal ist der Gegenstand im Bild selber der Entzündungsherd einer Empfindung, ein andermal wird es zum Gefäss oder zur Auffangstation von Gefühlen. In der Erinnerung sind solche Unterscheidungen oft völlig unwichtig. Aus diesem Grund tauchen Hannah Villigers Holz- und Plexiglasobjekte auch in den Fotoarbeiten wieder auf. Ist Hannah Villiger der Nebel, der um den Berg streicht, oder wird sie vom Nebel umhüllt? Hin- und Rückwärtsbewegungen, augenblickliches Schalten und Springen, im gleichzeitigen Fliessen und Fliegen charakterisieren Hannah Villigers Arbeiten, bis ein kompaktes Ganzes entsteht – wie ihr Name HANNAH…


Dieser Artikel erschien erstmals in: Künstler aus Basel (Ausst.-Kat.), Kunsthalle Basel, Basel 1981, ohne Seitenzahl.