Leben und Werk von Hannah Villiger

Claudia Spinelli

Mit präzisem Schnitt durchteilt sie ihr Gesicht, spaltet es in zwei ungleiche Hälften: Präsenz und Absenz. Von Hannah Villiger sind nur die Augen, die markant gesetzten Brauen, ein Teil von Stirn und Haaren zu sehen. Der Rest ist diffuse Spiegelung, Wiederholung und Brechung einer nunmehr bildlichen Realität. Die knapp dreissigjährige Hannah Villiger zeigt sich mit konzentriertem Blick. Aufmerksam sieht sie der Welt und den Menschen entgegen und gibt dabei doch nur sehr wenig von sich selber preis. Zentrum der Arbeit Hannah Villigers war ihr eigener Körper. Ihr eigentliches Arbeitsinstrument war die Polaroidkamera, die sie mal aus unmittelbarer Nähe, mal bis aus Armeslänge auf ihren eigenen Körper richtete. In der bildnerischen Umarmung hob sie die Schwerkraft auf. Sie fügte Füsse und Arme, Schulter, Beine und Brust zu neuen Identitäten, drehte und wendete diese so lange, bis das Bild ihrer Vorstellung entsprach. Manchmal kehrte sie sich auch zum Fenster und fotografierte die unmittelbare Umgebung ihrer Wohnung, den Baum auf dem Platz vor ihrem Haus oder die Silhouette der Stadt und den Himmel über ihr. Das Bild mit dem „messerscharfen Blick“1 ist eine der ganz wenigen Arbeiten, auf denen die Augen der Künstlerin zu sehen sind. Es steht an einem Wendepunkt, als sich Hannah Villiger von der plastischen Objektkunst verabschiedet und auf die Fotografie zu konzentrieren beginnt. Für dieses Bild den Begriff des Selbstporträts zu verwenden, ist verwegen, wird uns doch ein wesentlicher Teil der Informationen, die ein Porträt gemeinhin ausmachen, vorenthalten. Spricht man von einem Statement, dann ist man der Sache schon viel näher. Und dieses Statement ist im wesentlichen eine Inszenierung über den eigenen Blick: Die Frau, die sich hier darstellt, ist nicht eine, die verführen will, indem sie sich anschauen lässt, sondern eine, die uns an- und entgegensieht. Wenn sich Hannah Villiger als eine Frau zeigt, die zwar die Kommunikation sucht, sich gleichzeitig aber einen wesentlichen Kern ihrer Selbstbestimmtheit bewahrt, dann ist dies ein Hinweis auf die Funktion, welche die Kunst in Hannah Villigers Lebenskonzept einnimmt. Sie ist tatsächlich derjenige Bereich, der ganz allein ihr gehört, ein Instrument der Selbstvergewisserung, das – wie Hannah Villiger einmal selber notierte – für sie die gleiche existentielle Notwendigkeit besitzt wie das Lieben. Leben und Werk Hannah Villigers fügen sich zu einer organischen Ganzheit, bei der sich die beiden Bereiche im Idealfall in einem ausgewogenen Verhältnis gegenseitig befruchten, einmal die Kunst, ein andermal das Leben die Führungsrolle übernimmt. Obwohl sich ihr Werk nie im Autobiografischen erschöpft, ist dieses Moment sein zentraler Motor. „Grundlage des Schaffens: das ungebrochene Erlebnis des Lebens.“2 Hannah Villiger war eine Frau, die dem Leben ein Höchstmass an Intensität abforderte. Innehalten war ihre Sache nicht. Sie schritt immer weiter voran, und schonungslos verausgabte sie sich. Die Problematik, die ihr gesamtes künstlerisches Leben prägt, handelt von ihren intensiven Bemühungen, die Dynamik des Lebens und die Einsamkeit künstlerischer Arbeit in ein fruchtbares Gleichgewicht zu bringen.

Der Körper als Resonanzkörper

Der wesentliche Teil des Œuvres von Hannah Villiger besteht aus Fotografien ihres eigenen Körpers. Damit scheint sie zunächst innerhalb einer künstlerischen Tradition der Selbstbeobachtung und Selbstinszenierung zu stehen, wie sie bis heute unter immer wieder anderen Vorzeichen in den verschiedensten Gattungen betrieben wird. Die Liste ist lang, sie führt, um nur einige wenige Namen zu nennen, von Urs Lüthi über Jürgen Klauke zu Cindy Sherman, von John Coplans über Elke Krystufek bis zu Orlan. Bei all diesen Künstlerinnen und Künstlern bildet der eigene Körper einen wichtigen Orientierungspunkt, der indessen immer wieder anders ins Spiel gebracht, immer wieder anders inszeniert und thematisiert wird. Die Insistenz, mit der die lebenslange Konzentration auf den eigenen Körper betrieben wird, bringt Hannah Villiger auch in die Nähe der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras, deren gesamtes Schaffen um die eigene Person kreist. Wenn der wohl berühmteste Roman der Französin, L’Amant, mit dem Motiv des eigenen Gesichts beginnt, dann geht es dort um einen Versuch, die Veränderung des Äusseren über eine innere Entwicklung zu begründen. Oder anders herum formuliert: mit der abrupten Veränderung von einem reinen zu einem verwüsteten Gesicht wird das Äussere bei Marguerite Duras zur Metapher für eine innere Entwicklung. Ganz anders Hannah Villiger: Die Art und Weise, wie sie ihren Körper ins Bild setzt, kommt einer Konzentration auf eine Oberfläche gleich, die, mit der Bildhaut verschmolzen, zunächst vollkommen selbstreferentiell verstanden werden muss. Es sind nicht die Verweise auf ein Inneres, die Hannah Villigers Körperbildern Sinn verleihen würden. Sinn ergibt sich aus einer horizontalen Gleichzeitigkeit, der Unmittelbarkeit, in der das Publikum mit Körperlichkeit konfrontiert wird. Während sich also Marguerite Duras an der eigenen Geschichte orientiert und ihr Äusseres über einen Rückgriff auf fiktive und tatsächliche Begebenheiten zu entschlüsseln sucht, ist Hannah Villigers Arbeit von einem Impuls getragen, der in die genau entgegengesetzte Richtung weist. Die eigene Geschichte wird aus dem Bild zurückgedrängt. Narration wird vermieden, das Bild so weit wie nur möglich entfiktionalisiert. Der gezeigte Körper wird zu einem Resonanzkörper. Sinn entsteht erst in der Konfrontation mit dem Publikum, in den ausgelösten physischen, psychischen und geistigen Reaktionen. Wenn Marguerite Duras schreibt, dass das einzige Bild, das ihr gefalle, ihr junges, spurenloses Gesicht zeige, dann könnte man sagen, dass das einzige Bild, an dem Hannah Villiger Gefallen findet, ein von aller Schwerkraft, konkreter Biografie und gesellschaftlicher Vereinnahmung befreites Bild ihres Körpers ist. Darin unterscheidet sie sich denn auch weitgehend von den oben erwähnten Künstlerinnen und Künstlern: Während John Coplans die Vergänglichkeit seines eigenen Körpers thematisiert, könnte man die theatralischen Selbstinszenierungen von Jürgen Klauke oder Urs Lüthi unter dem Aspekt des Rollenspiels subsumieren. Cindy Sherman untersucht die mediale Konstruktion von Identität, während sich Elke Krystufek zu einer sexualisierten Kultfigur stilisiert und Orlan mediale Schönheitsideale am eigenen Körper blutig durchexerziert. Im Gegensatz zu diesen Positionen, die den Körper unter die Perspektive seiner gesellschaftlichen Vereinnahmung stellen, kulturelle Wertigkeiten und Hierarchisierungen fokussieren, erzeugt Hannah Villigers an Grundsätzlichem orientierte Konzeption immer wieder neue Reibungsflächen. Ihr Werk wirft eine Vielzahl von Fragen auf, die Gesellschaftliches und Mediales ebenso tangieren, wie sie Themen des menschlichen Daseins umkreisen.

„Kann man nicht mehr auswandern, wird man seine eigene Reise“3

Ihre Jugend verbringt Hannah Villiger, Jahrgang 1951, in Cham, einer auf halbem Weg zwischen Zürich und Luzern gelegenen Kleinstadt am Zugersee. Ein Ort wie viele andere auch, typisch schweizerisch – behäbiger Wohlstand, bürgerlich und katholisch. Sie ist das vierte von fünf Geschwistern. Die Familie besitzt eine Metzgerei und ein Viehhandelsgeschäft. Der Vater stirbt an Hannah Villigers sechzehntem Geburtstag. Jahre später erklärte Hannah Villiger gegenüber einem Freund, dass sie dadurch schon früh eine weitreichende Selbst- und Eigenständigkeit entwickelt habe. Dies betrifft nicht nur ihre persönliche Entwicklung, sondern auch ihre wirtschaftliche Lage, steht ihr doch durch die Erbschaft etwas Geld zur Verfügung, was natürlich – vor allem, wenn man einen künstlerischen Beruf anstrebt – eine erhebliche Erleichterung bedeutet. Nach dem Handelsdiplom verbringt Hannah Villiger ein halbes Jahr in England und belegt anschliessend den Vorkurs an der Kunstgewerbeschule Zürich, wo ihre Freundin Rut Himmelsbach4 die Fotoklasse besucht. Die Mutter, selbst gelernte Schneiderin, lehnt zwar Hannah Villigers Wunsch, es ihrer Jugendfreundin gleichzutun und ebenfalls Fotografin zu werden, ab, hat grundsätzlich aber nichts gegen eine gestalterische Ausbildung, beispielsweise in Richtung Textildesign, einzuwenden. Als Hannah Villiger 1972 in die Fachklasse für Bildnerisches Gestalten der Kunstgewerbeschule Luzern aufgenommen wird, lässt sie sie gewähren.

Die späten sechziger und frühen siebziger Jahre sind auch in der Schweiz – wie überall in Europa – eine Zeit gesellschaftlicher Umwälzungen. Die junge Generation opponiert gegen den bürgerlichen Lebensstil und die brüchig gewordenen Werte der Eltern, es wird mit neuen Lebensformen experimentiert. Hannah Villiger, zwanzigjährig, lebenslustig und neugierig, zieht gemeinsam mit Freunden, die künstlerische Ambitionen hegen, in ein altes Haus in Uerzlikon im Kanton Zürich. Dies entspricht einem Trend der Zeit, hat sich doch in diesen Jahren das traditionelle Gefüge ländlichen Lebens grundlegend verändert. Leute, die vor mehr als einem Jahrzehnt das Land in Richtung Stadt verliessen, ziehen nun wieder zurück, ohne indessen ihren neuen, offeneren Lebensstil aufzugeben. Während das etablierte kulturelle Leben in den grösseren Städten eher zu einer gewissen Verkrustung neigt, entwickeln sich in der nun urbanisierten Provinz nachgerade für die junge Kunstszene interessante Freiräume und Nischen.

Beinahe legendär schon ist die Situation in Luzern: Die Kunstgewerbeschule zeichnet sich durch eine grosse Offenheit aus, die Lehrer sind jung und engagiert. Anton Egloff, der Leiter der Fachklasse für Bildhauerei, die Hannah Villiger während zwei Jahren besucht, pflegt einen lebendigen Unterrichtsstil, der die Auseinandersetzung mit Neuem fördert. Ganz wesentlich für diese Jahre sind natürlich auch die Impulse, die von Jean-Christophe Ammann, dem jungen Leiter des Kunstmuseums, ausgehen. Die lokalen Kunstschaffenden werden ernst genommen und ganz selbstverständlich in ein Programm integriert, das den aktuellsten internationalen Strömungen gilt. Künstler wie Joseph Beuys, Sigmar Polke, Giovanni Anselmo, Gilbert & George5 oder Joseph Kosuth werden neben Schweizern wie Franz Gertsch, Urs Lüthi oder Luciano Castelli gezeigt. Wesentliche Impulse und Unterstützung für junge Künstlerinnen und Künstler gehen auch von Heiny Widmer, dem Leiter des Aargauer Kunsthauses Aarau, aus. Derselbe Kanton verabschiedet zu jener Zeit eines der grosszügigsten Stipendienprogramme der Schweiz, von dem auch Hannah Villiger, die ein Aargauer Bürgerrecht besitzt, profitieren wird. Obwohl kaum von einer grossen Akzeptanz in der breiten Öffentlichkeit gesprochen werden kann, hat sich doch eine Situation entwickelt, die auf junge Kunstschaffende äusserst motivierend gewirkt und das Selbstbewusstsein gestärkt haben muss. Zudem verfügt man über einen hohen Informationsstand: Neben dem Kunstmuseum Luzern bewegen sich auch Institutionen wie die Kunsthallen Basel oder Bern am Puls der Zeit. Kurz, die Schweizer Kunstwelt jener Jahre ist weltoffen und informiert. Zumindest für die jungen Künstlerinnen und Künstler scheint die „Helvetische Enge“, die der etwa zwanzig Jahre ältere Schriftsteller Paul Nizon beklagt, ihren dramatischen Impetus eingebüsst zu haben6.

Die ersten Jahre

Hannah Villiger gehört nicht zu jenen Künstlerinnen, deren Werk sich aus dem Frühwerk erklären liesse. Im Rückblick kann man zwar durchgängige Interessensstränge ausmachen, das reifere Werk ist indessen nicht zwingend in den ersten Arbeiten angelegt. Sicher ist in jedem Fall, dass Hannah Villiger schon vor ihrem Besuch der Kunstgewerbeschulen von Zürich und Luzern regelmässig fotografierte. Ihren eigentlichen Zugang zum Medium der Fotografie fand Hannah Villiger aber erst über die Plastik. „Hannah Villiger begann ihre Tätigkeit nach einer Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Luzern. Sie arbeitete dort bei einem Lehrer, der ihr früh schon ein merkwürdig intensives, aber zugleich kritisch-gebrochenes Verhältnis zur Welt der sichtbaren Dinge vermittelte. Eine Serie aus dem Jahre 1973 zum Beispiel zeigt eine Abfolge von Arbeiten, die ein Stück eines Astes darstellen: einmal als genaue Naturstudie gezeichnet, ein andermal als Negativ in Gips gegossen; dann in Steinplatten gebohrt und gehauen und schliesslich als verfremdet inszeniertes Originalstück selbst.“7

Das, was Heiny Widmer als „kritisch-gebrochenes Verhältnis“ zur Darstellung umschreibt, meint eine intensive Auseinandersetzung mit den Bedingungen verschiedener medialer Bildformen wie die vollplastische Skulptur, Negativ- und Positivformen, das Relief, die Zeichnung und der Wechsel von einem Medium zum andern. Die Ausbildungssituation in der Klasse von Anton Egloff hat also von Anfang an die Suche nach einer Werkform unterstützt, bei der sich Medium und Inhalt zu einer ganz spezifischen Einheit verbinden würden. Daraus erklärt sich auch der Umstand, dass Hannah Villigers Werkentwicklung in den ersten Jahren in verschiedenen Medien, in der Skulptur, in der Zeichnung und in der Fotografie, parallel vor sich geht. 1974 ist Hannah Villiger 23 Jahre jung und – an heutigen Massstäben gemessen – ein Shooting Star. Sie erhält ein Stipendium nach dem andern und wird bereits vor Abschluss ihrer Ausbildung zu wichtigen Ausstellungen junger Schweizer Kunst eingeladen. Im Frühjahr 1974, noch ist sie Schülerin an der Kunstgewerbeschule Luzern, erhält Hannah Villiger das Eidgenössische Kunststipendium. Sie reist nach Kanada, wo sie mehrere Wochen bei Jürg Stäuble verbringt, der als Stipendiat des Canada Council in Vancouver und Toronto lebt. Mit dem ein paar Jahre älteren Aargauer Künstler teilt sie die Begeisterung für die aktuelle amerikanische Kunst, den Minimalismus und den Postminimalismus, insbesondere die Land Art. Bevor Hannah Villiger nach Europa zurückkehrt, wo sie im Herbst 1974 ein Stipendium im Istituto Svizzero in Rom antritt, reist sie ein paar Wochen lang, teils gemeinsam mit Freunden, teils alleine, durch Nordamerika.

In Rom erwartet Hannah Villiger eine anregende und intensive Zeit. Das Leben im Institut gleicht dem einer WG. Natürlich nutzen auch Freundinnen und Freunde aus der Schweiz die Gelegenheit und reisen an. Alles wird geteilt, man lebt, liebt und arbeitet gemeinsam. Eine Szene formiert sich, und es werden Freundschaften geschlossen, die über Jahre anhalten werden. In diesen Zeitraum fällt auch der Beginn der Beziehung zu Susan Wyss, die wiederholt in Rom auf Besuch ist. So sehr Hannah Villiger das ausgelassene Leben in der Gemeinschaft geniesst, so sehr empfindet sie es auch als Beeinträchtigung, als Störung, die sie davon abhält, konzentriert zu arbeiten. Trotzdem muss sich Hannah Villiger in Italien sehr wohl gefühlt haben. Das künstlerische Klima, insbesondere im Umfeld der legendären Galerie von Gian Enzo Sperone, war hochkarätig. Zudem zeichnete sich mit einer äusserst aktiven jungen Kunstszene nachgerade in Rom ein neuer Aufbruch ab, der Turin als künstlerischem Zentrum langsam aber sicher den Rang ablief. In Rom war etwas los, und das beschränkte sich nicht nur auf die kleine Schweizer Kolonie im Institut. Hannah Villiger ist begeistert. Sie bleibt nach Beendigung des Stipendiums in der Stadt und sucht sich eine Wohnung, die sie eine zeitlang mit dem Berner Künstler Urs Stooss und später mit dem Basler Alex Silber teilt. Danach mietet sie eine kleine Wohnung im umbrischen Montefalco, wo sich bereits andere Schweizer Künstler niedergelassen haben. Den Sommer 1977 verbringt sie in Umbrien, ansonsten führt Hannah Villiger aber ein recht hektisches Leben: Für Ausstellungseröffnungen reist sie regelmässig in die Schweiz, zwischendurch muss sie auch Geld verdienen.

Alma Mater – Bellona – Minerva

Während der Zeit in Italien nimmt Hannah Villigers Arbeit eine neue formale wie inhaltliche Komplexität an. Es entstehen grosse skulpturale Objekte: Langen Stangen, die in Palmwedel oder stachelige Spitzen münden, stehen breiter ausschwingende Objekte aus zusammengebundenen Ästen, Blättern, Schnur und Watte gegenüber. Im Sommer 1975 zeigt Hannah Villiger ihre an überdimensionierte frugale Vulvas gemahnenden Arbeiten, die mythische Titel wie Alma Mater, Bellona oder Minerva tragen, an der Biennale des Jeunes, einer internationalen Gruppenausstellung im Musée d’Art Moderne in Paris. Durch die Entscheidung, die grossen Lanzen fast aufrecht in der Vertikalen und die ausschwingenden Gebilde in der Horizontalen aufzustellen, wird die sexuelle Metaphorik, agressive Phalli an der Wand und empfangende Vulva am Boden, zum dominierenden Thema von Hannah Villigers Präsentation. Die Ausstellung fällt in eine Zeit, als Frauenkunst und der Diskurs um eine spezifisch weibliche Ästhetik gerade aktuell werden. Zwei Exponentinnen einer dezidiert feministischen Position, Ulrike Rosenbach und Valie Export, sind denn auch in der Ausstellung vertreten. Während diese in ihren Arbeiten die Rolle der Geschlechter unter einem sozial-, macht- und medienpolitischen Aspekt thematisieren, wird sich Hannah Villigers Interesse an einer künstlerischen Umsetzung konkreter feministischer Anliegen kaum weiter ausprägen. Ihre Werkentwicklung bewegt sich vielmehr in eine andere Richtung, dreht sich in spiralförmigen Kreisen, die einmal enger, einmal weiter um ihr Zentrum gelegt sind. Um ein Zentrum, das sich später als jener Nullpunkt herausstellen wird, den sie für sich in der Arbeit mit und am eigenen Körper findet.

Wenn Hannah Villiger bereits im folgenden Jahr die mythischen Titel weglässt und zu einem nüchternen „ohne Titel“ zurückfindet, dann ist das mehr als nur ein äusseres Zeichen für eine medial wie inhaltlich Grundsätzliches suchende Ausrichtung, die sich – wenn auch äusserst subtil – ebenfalls in der Präsentation an einer Plastikausstellung im Tessiner Dorf Vira Gambarogno niederschlägt. Im Gegensatz zu der etwas platten Installation in Paris findet Hannah Villiger dort für ihre frugalen Speere eine präzise Form. Das Zusammenspiel von Verletzlichkeit und Aggressivität fügt sich zu einem komplexen Verhältnis von Inhaltlichkeit und Materialität.

In der ursprünglichen Situation8, im Portikus der Kirche, befestigt sie die vier Meter langen Stangen so zwischen Wand und Boden, dass ihre weit in den Raum ausgreifenden Spitzen bedrohlich auf die Augen der Betrachter gerichtet sind. Das ganze Gebilde, die diagonal ausgreifende Installation, die dünnen langen Speere und die aus getrocknetem Pflanzenmaterial gearbeiteten Spitzen vermitteln selber aber auch eine Labilität, die ebenso empfindlich wirkt, wie sie verletzen könnte. Letztlich erzählen Hannah Villigers Speere also weniger vom triumphalen Aufbegehren in einer martialisch-aggressiven Geste, als vielmehr von einer immanenten Gefährdung, die gleichermassen Selbstgefährdung wie Fremdgefährdung ist.

Die aus einfachen, organischen Materialien gefertigten Objekte, die zwischen mythischer Erinnerung und konkreter Erfahrung oszillieren, stehen deutlich unter dem Einfluss der Arte Povera. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass sich Hannah Villiger in Italien aufhält und auch mit Künstlern wie zum Beispiel Mario Merz oder Jannis Kounellis in Kontakt kommt, sondern liegt auch in der allgemeinen Aufmerksamkeit begründet, die man damals dieser Kunstströmung entgegenbringt. Dass sich junge Kunstschaffende an einer älteren Generation orientieren, ist naheliegend, verweist aber auch auf die Problematik, mit der Hannah Villiger zu kämpfen hat. Bereits bestehende Konzepte zu variieren reicht nicht aus, um sich als Künstlerin zu etablieren. Die Forderung geht vielmehr dahin, eine eigene Sprache zu finden – und die hat Hannah Villiger damals ganz offensichtlich noch nicht gefunden. Die Affinität zu erfahrungsorientierten Konzepten, die auch an ihrem Interesse an Künstlern wie Walter de Maria oder Robert Smithson deutlich wird, bleibt jedoch für die weitere Entwicklung ihres Werkes bestimmend. Dies ganz im Gegensatz zu Malern wie Enzo Cucchi, Mimmo Palladino oder Nicola de Maria, die damals die junge Szene in Rom und, zusammen mit einer neoexpressionistischen Malerei vornehmlich deutscher Provenienz, bald auch den internationalen Ausstellungsbetrieb zu bestimmen beginnen.

„Wohin du blickst, dorthin wirst du auch fliegen“9

Aus heutiger Sicht haben die mit archaischem Impetus gearbeiteten Skulpturen Hannah Villigers etwas Staub angesetzt. Ganz anders hingegen die ersten eigenständigen Fotografien, die im gleichen Zeitraum entstehen. Eine der ersten fotografischen Arbeiten ist ein dreiteiliges Set, das jeweils einen Zeppelin am Himmel zeigt (S. 20/21). Während hier die Statik des Bildes über das Serielle gebrochen wird, sind es in den folgenden Jahren konkrete Bewegungsmomente, die abgebildet werden. Palmwedel, die über einer Küste schweben oder durchs Bild sausen, Stroh, das von einem Mähdrescher hochgewirbelt wird, und Bocciakugeln, die nicht stillstehen wollen. Alles ist Bewegung, verrät Unruhe und ist von einer Dynamik, die in den besten Arbeiten gar die Grenzen des Bildes sprengt. So meint man, den russenden Feuerschweif, der den Todesflug eines Palmzweiges begleitet, im nächsten Augenblick auf das Blatt der Fotografie überspringen und das Bild selber verzehren zu sehen, und man wundert sich, dass der Palmwedel, der durch einen ort- und bodenlosen Himmel fliegt, nicht für immer aus dem Bild entschwindet (S. 11). Indem Hannah Villiger die Schwere der Materie überwindet, gelingt es ihr in diesen Fotografien auch, inhaltlichen Ballast abzuwerfen. Durch den Wechsel des Mediums tritt der referentielle Charakter, der die archaisch anmutenden Skulpturen zu Fetischen eines fiktiven Kultes macht, zugunsten einer Dynamik zurück, die sich unmittelbar vor unseren Augen im und als Bild entfaltet. Die frühen Schwarzweissfotografien Hannah Villigers entstehen aus dem Dialog mit einer konkreten, plastisch und körperlich präsenten Wirklichkeit, um sich dann unvermittelt von diesem Referenzpunkt loszulösen und in unbekannte Gefilde, in energetisch aufgeladene Zonen aufzubrechen, in denen menschliche Sehnsüchte, Sinnlichkeit und Erotik ebenso absorbiert sind, wie die Bodenlosigkeit der freien Falls: „Der Raum öffnet sich. Die Künstlerin scheint sich selbst im Raum aufzulösen, zu verschmelzen mit ihm. Fliegende Palmwedel schweben als Metapher für das eigene Fliegen durch den Raum, entzünden sich, stürzen ab.“10 Die Übereinstimmungen zwischen Bild und innerem Erleben, die Heiny Widmer hier festhält, leuchten ein.

„Arbeiten – schlafen – frustriert sein / Wird das momentan mein Leben füllen?“

In den späten siebziger Jahren ist in Basel einiges los. Die Kunstszene, die im Umfeld der Galerie Stampa entsteht, ist hochkarätig und lebendig. Als Jean-Christophe Ammann, dem Hannah Villiger unter anderem die Beteiligung an der Biennale des Jeunes in Paris zu verdanken hat, an die Kunsthalle berufen wird, wo er ab 1978 wirken und die Kunstszene wesentlich mitprägen wird, entwickelt sich die Stadt für die Schweizer Kunstszene zu einem wichtigen Anziehungspunkt. Kein Wunder, entscheidet sich auch Hannah Villiger bei ihrer Rückkehr in die Schweiz für Basel, wo sie im September 1977 mit Susan Wyss eine gemeinsame Wohnung bezieht. Während der ersten Zeit in Basel arbeitet Hannah Villiger in verschiedenen Kneipen als Kellnerin. „Schwierige Zeit in Basel“, notiert sie. „Arbeiten – schlafen – frustriert sein / Wird das momentan mein Leben füllen?“11 Das Zusammenleben mit Susan Wyss ist von heftigen Aufs und Abs geprägt, und die künstlerische Arbeit geht eher schleppend voran. Dass Hannah Villiger Anfang 1978 das Kiefer-Hablitzel-Stipendium zum dritten Mal erhält, bedeutet eine gewisse Entspannung der Situation. Auch die Karriere entwickelt sich gut: Neben Beteiligungen an diversen Gruppenausstellungen konzipiert sie in diesem Jahr auch eine Einzelausstellung in einer Wiesbadener Galerie12. Die grosszügig angelegte Ausstellung vereint Fotografien und skulpturale Objekte und gestaltet sich als eine Art Retrospektive ihres gesamten bisherigen Schaffens. Für eine 27jährige Künstlerin, deren Position alles andere als gefestigt ist, ein ebenso denkwürdiger wie beachtlicher Umstand.

Wendepunkt

Die nächsten zwei Jahre sind von einer Suche geprägt, die weniger systematisch, denn intuitiv betrieben wird. Hannah Villiger arbeitet an mehreren Fronten gleichzeitig: Neben den Fotografien, die dynamische Situationen abbilden, entstehen Zeichnungen und eine Art skulpturale Collagen aus Teppichen, reliefartig bearbeiteten Holzplatten und zum Teil zerkratztem Plexiglas. Bei einem länglichen Objekt aus gebogenen Dachlatten taucht definitiv die Erkenntnis auf, dass sie die Fotografien dieser Objekte mehr befriedigen, als die skulpturalen Teile selber (S. 75). Damit ist der eigentliche Wendepunkt erreicht, der Hannah Villigers Schritt von der Skulptur weg hin zu einer „skulpturalen“ Fotografie einleitet. Einmal mehr geht es um eine Loslösung der Darstellung vom dargestellten Gegenstand. Eigentlich eine Erkenntnis, auf die sie schon in Rom hätte kommen können, war ihr doch bereits in den oben beschriebenen Fotografien die Autonomisierung des Bildes gelungen. Während es dort aber neben dem Ausschnitt vor allem die Bewegungsunschärfe war, über die sie die Statik des Bildes aufbrach und aus seiner Referentialität löste, kommt jetzt ein neuer Aspekt ins Spiel. Hannah Villiger entdeckt, dass unbewegte Masse, skulpturales Material im Bild eine neue schwerelose Identität erlangen kann. Eine Identität, die nicht auf einem Negieren des abgebildeten Gegenstandes basiert, sondern die sich aus einem ins Bild gebrachten Zusammenspiel von Körper und Raum ganz selbstverständlich ergibt. Neue Voraussetzungen hatten sich damit ergeben. Letztlich ist es aber eine gesundheitliche Krise, die Hannah Villigers Schritt weg von der Skulptur hin zu einer Fotografie in eine für ihr gesamtes weiteres Schaffen massgebende inhaltliche Richtung lenkt, die bei ihrem eigenen Leben ansetzt. Ob es der exzessive Lebensstil war, der zu Hannah Villigers schwerer Erkrankung führte, ist unklar. Immerhin war die Künstlerin, die in jeder Hinsicht zur Selbstverausgabung neigte, seit ihrem Umzug nach Basel stark abgemagert, die einst eher rundliche junge Frau hatte sich zu einer überschlanken, androgyn wirkenden Erscheinung gewandelt. Tatsache ist, dass Hannah Villiger, wenige Wochen nach der Rückkehr von einer Reise durch die USA, Anfang 1980 mit einer offenen Tuberkulose ins Basler Kantonsspital eingeliefert wird, wo sie längere Zeit in Isolation verbringen muss. Trotz der stark eingeschränkten Situation arbeitet sie intensiv. Sie zeichnet, experimentiert mit kleinen Objekten und wendet sich schliesslich mehr und mehr der Arbeit mit der Polaroidkamera zu. Sie fotografiert beispielsweise die Pflanze auf dem Fenstersims des Spitalzimmers und – als absolutes Novum – immer wieder auch sich selbst. Auch die eingangs besprochene Fotografie mit dem messerscharfen Blick ist im Krankenzimmer der Isolationsstation entstanden. Die lange Krankheit bedeutet einen massiven Einschnitt, eine Zäsur im Leben Hannah Villigers, die den Fokus ihrer Kunst nachhaltig verschiebt. Hannah Villiger beginnt, ihren Blick auf den ihr fremdgewordenen Körper und seine nächste Umgebung zu richten. An die Stelle eines „fremden“ Objektes, das sie sich über den Kamerablick aneignet, tritt jetzt die eigene, durch die Krankheit in Frage gestellte Existenz.

„Mein Kapital bin ich selbst“

Das ganze Jahr ist mehr oder weniger von der Krankheit geprägt: Nach dem Kuraufenthalt in Davos verbringt sie mehrere Wochen im elterlichen Ferienhaus im Tessin, und im September muss sie für eine medizinische Untersuchung ins Berner Tiefenauspital. Trotzdem ist die Zeit künstlerisch äusserst produktiv, hat sie doch einen menschlichen und künstlerischen Klärungsprozess ausgelöst: „Mein Kapital bin ich selbst“, schreibt Hannah Villiger im Mai 1980 in ihr Arbeitsbuch. Die ersten Ergebnisse der neuen Werkausrichtung schlagen sich sogleich in den Ausstellungsbeteiligungen nieder, denen sie trotz der schlechten Gesundheit ungebrochen nachkommt. Nach einigen Experimenten bezüglich Weiterbearbeitung und Präsentation der Polaroidvorlagen findet Hannah Villiger für eine wichtige Gruppenausstellung im Aargauer Kunsthaus Aarau schliesslich zu einem überlebensgrossen Bildformat, das für ihr gesamtes weiteres Schaffen prägend bleiben wird: auf fünf der insgesamt neun Bilder, die sie in einer Art Raumkabinett zeigt, ist Hannah Villiger selber, meistens ihr eigenes Gesicht zu sehen. Nie ganz, immer beschnitten, einmal Kinn an Kinn mit Susan Wyss (S. 71), einmal aus starker Untersicht, die Hand schützend vor der Brust. Pflanzenblätter (S. 73), eine geheimnisvolle Nachtsituation, das Dékolleté ihrer Gefährtin (S. 81), ein Fenster (S. 70) sowie zwei unscharfe Schwarzweissarbeiten ergänzen die lose gehängte Präsentation, die äusserst positiv rezipiert wird. Man attestiert der Künstlerin Selbstbewusstsein sowie einen „Hang zu kalter Romantik“13.

Knapp zwei Monate später, im Januar 1981, folgt die lang erwartete Ausstellung in der Kunsthalle Basel, in der Jean-Christophe Ammann mit sechs jungen Künstlerinnen und Künstlern sein erstes Statement zur lokalen Szene präsentiert. Hannah Villiger zeigt zwölf ausgewählte Fotografien, die – wie bereits in Aarau – auf Polaroidbildern basieren, welche sie über ein Internegativ auf ein Format von 115 x 115 cm bringt und auf dünne Aluminiumplatten aufzieht (S. 78–79).

Einer der ersten Künstler, der mit Polaroidbildern14 arbeitete, war der Amerikaner Lucas Samaras. Ob Hannah Villiger die Arbeiten des 1936 geborenen Künstlers kannte, ist unklar. Als zweimaliger documenta-Teilnehmer verfügte er in den siebziger Jahren immerhin über eine beachtliche Präsenz.

In dieser Zeit produzierte Samaras mehrere Serien von Polaroids, deren Entwicklungsprozess er virtuos beeinflusste. Motiv war sein eigener, meist nackter Körper, der durch die Manipulation in grotesker Verzerrung ins Bild kam. Während bei Lucas Samaras eine psychologisch aufgeladene Selbstinszenierung im Vordergrund steht, bleibt Hannah Villiger im wesentlichen eine nüchterne Beobachterin. Die Instantfotografie kommt ihr dabei insofern entgegen, als es den Gang ins Fotolabor erspart. Für eine Künstlerin, die das Krankenzimmer nicht verlassen darf, bieten sich damit geradezu perfekte Voraussetzungen, die verständlich machen, weshalb die Künstlerin zu diesem Medium findet. Anders als Lucas Samaras, der die eigentlichen Polaroids ausstellt und eine fiktionalisierte, bisweilen gar bedrohliche Bildwelt zur Disposition bringt, verfolgt Hannah Villiger, bei der das Polaroidbild bloss eine Vorstufe ist, eine ganz andere Konzeption.

Die Bilder, die in der Kunsthalle Basel noch nebeneinander gehängt, wenig später jedoch in einem einzigen 12-teiligen Block zusammengefasst werden, bauen eine Atmosphäre der Intimität auf, deren Wirkung zwischen registrierender Beobachtung und symbolhafter Aufladung oszilliert. Hannah Villiger bleibt dem Alltäglichen verhaftet, wertet es indessen um. Indem sie die Bilder auf ein überlebensgrosses Format aufbläst, erhält der flüchtige, fast beiläufige Charakter der Polaroidaufnahmen mit einem Mal Bedeutung und Gewicht. Das Moment des Spontanen, das den Schnappschüssen anhaftet, bleibt dabei weitgehend erhalten, wird zum Ausdruck einer durchlebten Erfahrung, welche die unterschiedlichen Bildperspektiven – Objektaufnahmen, eigene und fremde Körperausschnitte – suggestiv miteinander verbindet. Aus dem Zusammenspiel der einzelnen Motive ergibt sich ein atmosphärischer Eindruck. Aspekte von Intimität und Vertrautheit werden ohne narrative Logik vor uns ausgebreitet. Eine Hand auf einem signalroten Po – zwei Gesichter, einander zugewandt – die Schnur, die sich schmerzhaft in die Winkel eines rotgeschminkten Mundes eingräbt. In den Bildern deuten sich Zärtlichkeit und Begehren, Verletzung, Lust und Gleichgültigkeit an. Ein bedeutungsvoller Blick – ein achtlos weggeworfener Teebeutel. Zur Intimität gesellt sich die Scham. Honig, der wie eine schleimige Körperabsonderung am Rand einer Tasse klebt – der Rücken einer in sich zusammengekauerten Gestalt. Weisse Haut – ein Kaktus. In diesem Panorama menschlichen Begehrens, das ein Wechselspiel zwischen Aussetzung und Verletzbarkeit ist, verwischen sich die Positionen. Mit scharfen Schnitten seziert Hannah Villiger ihre intimste Beziehung und entfacht im harten Glanz der überlebensgrossen Fotografien ein kalt loderndes Feuer. Trotz des unmissverständlich autobiografischen Bezugs vermitteln die Bilder eine physische und psychische Intensität, in der alles Begehren, alle Lust und alle Verletzung dieser Welt absorbiert ist. In der Heterogenität dieses Bilderpanoramas spiegelt sich kein verstehendes Subjekt, sondern eines, das versucht zu begreifen, eines, das sich den subkutanen Vorgängen, der Unerklärlichkeit von Liebe, Hass und Begehren ebenso fragend nähert wie das Publikum.

„Ich bin die Skulptur“15

Was Hannah Villiger damals vielleicht nicht wahrhaben wollte, im nachinein aber offensichtlich ist, die Arbeit, die sie in der Kunsthalle Basel zeigte, war das Ergebnis einer abgeschlossenen Beziehung. Zwischen Susan Wyss und Hannah Villiger scheint alles durchgespielt. Trotzdem gehen die beiden Frauen im April 1981 im Anschluss an Hannah Villigers Ausstellung auf eine gemeinsame Weltreise. Den Sommer verbringen sie in Indonesien, im Herbst landen sie in Australien, wo sie bis zum Februar 1982 bleiben und in einer Galerie in Sydney sogar eine gemeinsame Ausstellung arrangieren. Tatsächlich verlaufen die letzten neun Monate ihrer Reise, die sie in Los Angeles verbringen, alles andere als glücklich und sind von unschönen Streitereien durchzogen. Hannah Villiger kehrt alleine in die Schweiz zurück. Damit ist – zumindest vorläufig – das letzte Wort zwischen den beiden gesprochen.

Wieder in Basel bezieht Hannah Villiger im Juni 1983 eine kleine Wohnung am St. Johanns-Platz. Sie beginnt nun in einsamer Abgeschlossenheit nur noch mit sich selber und ihrem eigenen Körper zu arbeiten. Wenn sie 1986 im Jahresbericht der Kunsthalle Basel schreibt, dass sie ihr nächster Partner und der ihr naheliegendste Gegenstand sei16, dann liegt darin nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine menschliche Konsequenz. Während es bei den ersten auf Polaroids basierenden Arbeiten nicht ganz klar ist, ob tatsächlich nur sie den Auslöser der Kamera betätigt, und das spannungsgeladene Verhältnis zu einem Gegenüber eine ganz wesentliche Komponente, wenn nicht gar der Motor der Arbeit ist, wird der Alleingang und damit auch das Moment des eigenhändigen Abdrückens ab 1983 zum zwingenden Programm. Die Polaroidkamera wird gewissermassen zu Hannah Villigers intimstem Partner, zu einem prothetischen zweiten Blick, den sie aus allen nur erdenklichen Blickwinkeln an und um ihren Körper führt.

In dieser Zeit freundet sich Hannah Villiger mit dem Künstler Rémy Zaugg an, in dem sie einen Menschen findet, mit dem sie nicht nur privat, sondern auch künstlerisch intensiv kommunizieren kann. Auf ihre Arbeit wirkt sich diese Beziehung äusserst positiv aus. Hannah Villiger erlebt eine ihrer produktivsten Zeiten, arbeitet konzentriert. „Jetzt vergesse ich den Alkohol, die Zigaretten und den Sex – geistige Konzentration“, schreibt sie 1983 in ihr Notizbuch. Sich systematisch mit den Möglichkeiten des Bildes, mit Fragen der Farbgebung und Komposition auseinandersetzend, beginnt sie in intensiver Arbeit jenes Grundvokabular zu entwickeln, das fortan für ihr gesamtes weiteres Werk massgebend bleiben wird. Das Narrative tritt zurück, ihre Fotos werden grundsätzlicher, die Motive reduzierter. „Bis jetzt habe ich die Welt interpretiert, umgewandelt zu meiner eigenen – jetzt will ich eine neue ... zeigen“17, notiert sie. „... es sind bewusste Bilder. ... Ich verwende alle mir bekannten Mittel zur Auflösung des üblichen Raumes und dessen Gesetz der Schwerkraft. Mein Ziel ist nicht ein Abbild des Gegebenen, sondern ein autonomes Werk ... “18 Ein Körperausschnitt aus dem Schulterbereich wird beispielsweise so ins Bild gesetzt, dass der Armansatz auf der linken Bildseite ebenso beschnitten wird wie der Hals oben rechts (S. 144–148). Durch diese Massnahme tritt die Architektur des Körpers, sein Volumen und sein Gewicht, zugunsten einer eigenen Plastizität zurück. An die Stelle des Körpers tritt ein Bildkörper, die Haut wird zur Bildhaut, zu einer virtuellen Landschaft, in der sich, je nach Lichtführung – helle diffuse Lichtquelle oder stark verschattendes Streiflicht –, unterschiedliche Stimmungseindrücke manifestieren. „Durch die dauernde Wiederholung wird mein Körper ,Ein Körper‘. Und sogar dieser abstrakt gewordene ,Ein Körper‘ wird vergessen – nur der reine Klang entblösst.“19 Einmal sind die Körperteile, Hände, Füsse oder Schenkelpartien, von hartem Licht überstrahlt, verbinden sich mit einem diffusbläulichen Grund zu schwerelosen Sphären, ein andermal rückt die Kamera dermassen dicht an den Körper heran, dass sich seine Konturen verwischen, mit Wand oder Boden transparente Folien bilden. Hannah Villigers Körper löst sich im Umraum auf, erlangt in der bildnerischen Umarmung eine neue, schwerelose Identität.Semantisch bewegen sich Hannah Villigers Fotografien in einem Feld vorsprachlicher Grundsätzlichkeit, das absolutes Neuland bedeutet. Dies ist umso bemerkenswerter, als Hannah Villiger ja ihren nackten Körper fotografiert, also in einem Bereich ansetzt, der kunsthistorisch und medial gemeinhin von einem einseitigen Machtgefälle zwischen Betrachter und weiblichem Bildobjekt geprägt ist. Es ist nicht nur das überlebensgrosse Bildformat, das sie in dieser Zeit definitiv bei 125 x 123 cm festlegt, sondern das gesamte Bildgefüge, das einen möglichen machtvollen Zugriff der Betrachter nicht nur konterkariert, sondern schlichtweg undenkbar macht: Die Distanz- und Schonunglosigkeit, mit der Hannah Villiger ihren Körper dem Kamerablick aussetzt, und die Art und Weise, wie sie ihn in einzelne Gliederstücke zerlegt und diese in neuen fragmentarischen Ausschnitten zusammenfügt, verleiht ihren Bildern eine intensive skulpturale Präsenz, die sich auf die Betrachtenden überträgt, körperlich und psychisch fordert.

Das Positive an der Arbeit mit der Polaroidkamera ist, dass sie Bilder hervorbringt, die unmittelbar korrigiert werden können. Dies wird vor allem dann wichtig, wenn Hannah Villiger die Kamera weit von sich weghält und ohne Kontrolle des Auges belichtet. Ein weiterer Schritt der nachträglichen Manipulation ergibt sich über das quadratische Format, das so lange gedreht werden kann, bis die Polaroids, wie die Künstlerin schreibt „ihr eigenes Unten finden“20. Auch die etwas eigentümliche, synthetisch dichte Farbigkeit des Mediums scheint angesichts des Bestrebens einer Autonomisierung des Bildes durchaus vorteilhaft zu sein, kann aber, ebenso wie Kontrast oder Helligkeit, bei der nachträglichen Grossvergrösserung über ein Internegativ verändert werden. Gleichwohl ist es ein Missverständnis, wenn man sich die Fotositzungen Hannah Villigers als einfachen Akt vorstellt. Durch das Vorhaben, bewusste Bilder herzustellen, ist sie bestrebt, das Zufällige möglichst weit zu beschränken, die Position von Kamera und Körper so weit wie möglich zu kontrollieren. Die besseren Möglichkeiten, die Komposition eines Bildes zu überblicken, sind sicher mit ein Grund für den Entschluss, die Kamera auch nach draussen zu wenden und den Baum vor dem Haus regelmässig zu fotografieren, ihn mal als kahles Geäst, mal als dichtgrüne Ganzheit im Bild ebenso zu beschneiden wie ihren eigenen Körper.

Exemplarische Subjektivität

Die Vorstellung vom Individuum als abgeschlossenem Ganzen hat längst ihre Gültigkeit verloren. Das menschliche Selbst ist ein mit der äusseren Realität komplex verwobenes Phänomen. Was dies für die bildnerische Konstruktion von Identität bedeutet, lässt sich gut an Cindy Shermans Untitled Film Stills ablesen. Die Künstlerin zeigt sich in immer wieder anderen Rollen, in anderen Kleidern, in anderen Situationen, nimmt also immer wieder neue Identitäten an. Massgebend für den Eindruck sind nicht nur die Kleidung, der Gesichtsausdruck oder die Haltung der Künstlerin, sondern auch die Organisation des Bildraumes und die Art, wie der Körper innerhalb dieses Zusammenhangs gesetzt ist. Bei Cindy Sherman wird der Umraum zu einem wesentlichen Moment der Identitätsbestimmung. Räumliche Tiefe, Innenraum oder Aussenraum, Untersicht und Aufsicht sind Mittel, die einen narrativen Zusammenhang suggerieren, der – wie die Schlüsselszene eines Filmes – die Persönlichkeit einer Protagonistin charakterisiert. In bezug auf Cindy Sherman nimmt Hannah Villigers Raumkonzeption eine Gegenposition ein. Die fragmentierten Körperteile sind nicht nur ihrer Funktionalität enthoben, sie sind auch so ins Bild gebracht, dass die virtuelle Räumlichkeit zurücktritt. Offenkundig wird dies vor allem bei denjenigen Arbeiten, die sich ganz auf die Körperhaut konzentrieren.

Das Prinzip trägt aber auch dort, wo mit einem Hintergrund gearbeitet wird. Massgebend ist dabei nicht nur dessen Neutralität, weisses oder blaues Tuch, sondern auch der Einsatz von Unschärfe, die im oberen Bildbereich leicht zunimmt und damit der räumlichen Tiefenwirkung zugunsten einer gesteigerten Flächenwirkung entgegenläuft. Über diese Massnahmen wird den Körperausschnitten eine konkret bestimmbare Identität abgezogen. Ohne diesen zu negieren, rückt Hannah Villiger ihren eigenen Körper in den Fokus einer grundsätzlichen, gewissermassen protoindividuellen Körperlichkeit. Ihre bildnerische Auffassung verflacht den referentiellen Charakter der Fotografie. Sie schafft offene Bildsysteme, die, als im wesentlichen selbstreferentielle Bildobjekte, ihren Ort erst innerhalb der Architektur des Ausstellungsraumes finden.Diese strukturale Offenheit führt Hannah Villigers Arbeit in die Nähe von Frank Stella, dessen in Streifen gegliederte Leinwände einem Verständnis folgen, das Bild als reine, selbstreferentielle Oberfläche zu begreifen, bildlichen Illusionismus also zugunsten eines Prinzips von Bedeutsamkeit zu verdrängen, das erst im Erleben durch die Betrachtenden zum Tragen kommt. Nun malt Hannah Villiger aber keine Streifen, sondern fotografiert ihren Körper und bringt sich als exemplarisches Selbst ins Spiel. Das Bild wird damit, wie bereits bei Jackson Pollocks gestischer Malerei, zu einem Träger lebendiger Körperlichkeit. Geht es bei diesem aber um eine dynamische Bewegung, die sich als Ergebnis einer heftigen Entladung auf der Leinwand abbildet, geben sich Hannah Villigers Bilder von Körperausschnitten gleichsam verhalten. Aus dieser Perspektive wird ihre Konzeption – so erstaunlich dies zunächst klingen mag – mit der Malerei eines Helmut Federle vergleichbar.21 Die einfachen, rechtwinklig gesetzten Balken, mit denen Federle seine Leinwände strukturiert, können tatsächlich mit seinen Initialen in Verbindung gebracht werden, was einem Versuch entspricht, sich selber ins Bild zu bringen, ohne eindeutig „Ich“ zu sagen. Dahingehend herrscht bei beiden, Federle und Villiger, eine weitgehende Übereinstimmung. Wenn sich die grossflächigen Bilder des Malers zwischen Symbolik und Formalismus bewegen, dann besetzen sie jedoch ein Feld, das weitgehend von abstrakten, konzeptuellen Überlegungen bestimmt ist. Ganz anders Hannah Villiger, wo körperliche Wirklichkeit als Ausgangspunkt bildbestimmend bleibt.Tatsächlich implizieren Körperteile einen anderen Bedeutungskontext als aus der Form des Bildträgers hergeleitete Streifen, auf Leinwand geschüttete Farbe oder symbolistische Formstrukturen. Körperlichkeit bedeutet Leben, authentische Wirklichkeit. Sie entspricht dem menschlichen Dasein in seiner reinsten Form, das immer wieder anders, immer wieder neu zum Ausdruck kommt.

Skulptural

Der Umgang, den die Bildhauerin Hannah Villiger mit der Kamera pflegt, unterscheidet sich ganz wesentlich von einer herkömmlichen Fotografie: Tatsächlich richtet sie ihren Fotoapparat nicht auf die Aussenwelt, um sich diese in ihren Bildern anzueignen, sondern sie benutzt die Kamera als ein Instrument, um mit und an ihrem eigenen Körper zu arbeiten, immer wieder neue Bilder aus ihm herauszumeisseln. „Tun wir so, als bestünden wir aus zwei Personen“22, umschreibt Hannah Villiger das Verhältnis zu ihrer Kamera, mit der sie eine Vertrautheit pflegt, in der sich die Unterscheidbarkeit zwischen eigenem und fremdem, subjektivem und objektivem Blick in ebenso vielschichtigen wie gegenläufigen Konstellationen verwischt.

Der eigentliche künstlerische Akt vollzieht sich in der Intimität ihres Ateliers, definiert sich durch einen dezidierten Ausschluss des Sozialen. Wenn auch die Künstlerin die Kamera von aussen gegen ihren Körper richtet, so bleibt die Distanz zwischen Objektiv und Haut doch auf einen intimen Raum beschränkt, wie er sich aus der Reichweite ihres Armes, also aus der Körperhaltung der Künstlerin ergibt. Die Kamera als Verkörperung einer ominösen zweiten Person ist demnach eine prothetische Verlängerung, eine mechanische Erweiterung des eigenen Blicks. Und dieser Blick ist, ganz im Sinne der Künstlerin, die ihre Arbeiten nun alle mit „Skulptural“ betitelt, ein kontrollierender, beherrschender Blick. Hannah Villiger bietet sich nicht einem fremden Blick an, sondern ist darauf bedacht, sich ihre Privatsphäre zu erhalten. So wird die Zurschaustellung einer konkret bestimmbaren Identität durch eine sorgfältige Kamera- und Auswahlarbeit bewusst vermieden.In Übereinstimmung mit dem adjektivischen „Skulptural“, das sie für eine einzelne Arbeit verwendet, bezeichnet Hannah Villiger ihre jeweiligen Ausstellungen fortan als „Skulptur“. Mit der Integration in einen konkreten räumlichen Kontext ist der zweite Schritt ihrer Werkkonzeption angesprochen. Tatsächlich fügen sich die Fotografien in den architektonischen Kontext des Ausstellungsraumes und entwickeln eine intensive Präsenz. So direkt die Konfrontation jedoch ist, so ungeschönt Haut und Glieder gezeigt werden, durch die dezidierte Trennung zwischen dem performativen Akt des Fotografierens und dem Erleben der Ausstellungssituation bleibt die eigentliche Privatsphäre der Künstlerin unangetastet. Diese spezifische, auf der Trennung zwischen der Privatheit der Künstlerin und der Öffentlichkeit beharrende Perspektive bleibt auch dann massgebend, wenn die Künstlerin ihre Terrasse betritt, um den Platz und den Baum vor ihrem Haus zu fotografieren. Tatsächlich erfolgt der Blick auf den Platz von oben und aus grosser Distanz, während der Blick auf den Baum einem Standpunkt entspricht, der allein der Künstlerin vorbehalten, also ein ganz und gar privater ist. So wird der Baum im Laufe der Zeit zu einem Alter Ego der Künstlerin, das sie, fragmentiert und gedreht, als ebenso unergründliche Subjektivität in den Raum stellt wie ihren von Pigmentflecken übersäten Körper.

In der Vorbereitungsphase für ihre Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel, die lange im voraus auf das Frühjahr 1985 festgelegt wird, besucht Jean-Christophe Ammann Hannah Villiger mehrmals in ihrer Atelierwohnung. Obschon sich zwischen Künstlerin und Kurator kein besonders vertrautes Verhältnis entwickelt, ist diese Ausstellung ein Höhepunkt ihres bisherigen Schaffens. Sie gibt ihr den Titel „Neid“, was, wenn der erste und der letzte Buchstabe vertauscht werden, „Dein“ ergibt und auf die komplexe Dualität ihres Konzeptes anspielt.23 Die Künstlerin präsentiert eine Auswahl der Körperbilder, die in den letzten zwei Jahren entstanden sind (Abb. S. 51). Im Treppenhaus wird zudem der bereits 1980/81 entstandene Fotoblock ein weiteres Mal gezeigt (S. 78–79). Zur gleichen Zeit stellt Hannah Villiger auch in Zürich in der Galerie aus, die Susan Wyss mittlerweile eröffnet hat. Die Beziehung hat sich offensichtlich entspannt und findet in einer professionellen Zusammenarbeit eine Fortsetzung. Im Januar 1986, nur wenige Monate nach der Ausstellung in der Kunsthalle Basel, erhält Hannah Villiger im Centre Culturel Suisse in Paris eine grosszügige Raumsituation angeboten. Die Ausstellung, abermals von Jean-Christophe Ammann betreut, konzentriert sich im zentralen Hauptraum auf ein Ensemble von Bildern, die den Baum vor Hannah Villigers Haus zeigen. Die Plazierung der Körperbilder in den seitlichen Kabinetten nimmt deren intimen Charakter auf, ohne sie indessen zu isolieren: grosszügige Durchblicke verbinden die unterschiedlichen Perspektiven, entwerfen einen Ort, der wie eine vielfältige Landschaft erfahren werden kann, in der sich die Unterschiede zwischen distanzierter Beobachtung und physischer Involvierung in einem differenzierten Wechselspiel zwischen Innen- und Aussenraum verwischen. Dass der scheinbar objektive Blick nach draussen im Zentrum der architektonischen Situation, die Körperbilder aber in den umliegenden Kabinetten gezeigt werden, die Blickrichtungen also vertauscht sind, ist einmal mehr ein Indiz für Hannah Villigers auf vielschichtigen Gegenläufigkeiten basierende Konzeption, in der die Unterscheidbarkeit zwischen subjektivem und objektivem Blick ihre scharfe Kontur verliert.

„Schneller, agressiver, sexueller“

Wie schon 1981 macht sich Hannah Villiger nach der Eröffnung ihrer grossen Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel Ende 1985 auf und davon – diesmal nach Paris, wo sie für sechs Monate das Aargauer Atelier in der Cité des Arts bewohnt, sich im Anschluss aber eine eigene Wohnung suchen und nun endgültig hängen bleiben wird. Die Abwehr von Endgültigem, die Lust an Abenteuer und Zufall, an der Ausdehnung von Gefahrenzonen, die Christiane Meyer-Thoss Hannah Villigers Werkprozess attestiert24, lässt sich ohne weiteres auch auf das Leben der Künstlerin übertragen. Tatsächlich richtet sich ihre Intensität und Neugierde, die sie zwischen 1983 und 1985 in der Arbeit ausgelebt hat, in Paris wieder vermehrt auf die Aussenwelt. Anziehungspunkt ist vor allem der von Afrikanern frequentierte Club Tango. Die Künstlerin lebt ihre Sexualität frei und – wie alles, wofür sie sich einmal entschieden hat – exzessiv aus. Ende 1988 lernt sie ihren späteren Ehemann Joe Kébé kennen. Joe Kébé stammt aus einer senegalesischen Architektenfamilie und hält sich zu Ausbildungszwecken in Paris auf. Auch während Hannah Villigers Pariser Zeit bleibt der Kontakt zu ihren Schweizer Freunden bestehen. Berührungspunkte zwischen den verschiedenen Sphären, in denen sich ihr Leben nun abspielt, ergeben sich aber nur wenige. Sind die Arbeiten der Jahre 1983 bis 1986 in Übereinstimmung mit Hannah Villigers Rückzug aus der Welt entstanden, geraten Kunst und Leben in den folgenden Jahren in eine heftige Konkurrenz. 1988 präsentiert sie in einer Doppelausstellung in der Galerie Peter Bläuer und in der von Eric Hattan geleiteten Filiale Basel neben Fotografien, die den Innenhof ihrer Pariser Wohnung zeigen (S. 169–172), eine Gruppe neuentstandener Körperbilder, auf denen sich einzelne, aus grösster Nähe aufgenommene Körperteile wie transparente Folien überlagern: Der Körper verliert sich in der Unkenntlichkeit der Abstraktion (S. 167–168). Alsbald aber wird Hannah Villigers Arbeit eine Wendung nehmen, die in eine entgegengesetzte Richtung weist. Die vergeistigte Stimmung der diffusen, aquarellartigen Bilder steht in einem allzu offensichtlichen Widerspruch zu dem intensiven, aktiven, körperlich lustvollen Leben, das die Künstlerin in Paris führt. „Abstraktion muss sich durch das Universum des Künstlers einlösen können. Weisheit, kein Erfindertum, somit ist Figur immer noch wichtig“25, so das Fazit der Künstlerin, das eine neue Werkausrichtung, ein neues Kapitel im Schaffen Hannah Villigers einleitet. Die dichtbeschriebenen Arbeitsbücher jener Zeit zeugen unmissverständlich von der Dringlichkeit des Anliegens, Kunst und Leben wieder miteinander in Einklang zu bringen. Manches wirkt verkrampft, was nicht nur angesichts der neuen Lebenssituation, sondern sicherlich auch unter der Perspektive der endgültigen Trennung von Rémy Zaugg verständlich ist. Hannah Villiger erprobt den intellektuellen Alleingang, arbeitet intensiv und experimentiert sogar mit Gipsreliefs, die sie alle wieder zerstört. Auch die Reihe von Schwarzweissfotos (Abb. S. 55), die den Torso eines Afrikaners zeigen, sowie um 90 Grad gedrehte Uferböschungen und Landschaftssituationen zeugen vom trotzigen Aufbegehren einer Künstlerin, die letztlich nur sich selber Rechenschaft schuldig ist und bei ihrer Suche nach Neuem, ihrer Lebenssituation Entsprechendem, keinerlei Risiko scheut.

Das, was sich äusserlich wie eine Krise ausnimmt, letztlich aber eben das Besondere am künstlerischen Selbstverständnis Hannah Villigers ausmacht, färbt auch auf die Einzelausstellung im Basler Museum für Gegenwartskunst ab, die Ende 1989 anlässlich der Verleihung des Manor-Kunstpreises eröffnet wird.

Die Problematik, mit der sich Hannah Villiger herumschlägt, besteht darin, dass ihr das künstlerische Vokabular, das, wie wir weiter oben gesehen haben, auf einem Ausschluss des Sozialen beruht, nicht mehr genügt. Der Wunsch nach Erweiterung und Öffnung wird an den Bildern, die sie im Museum für Gegenwartskunst zeigt, deutlich ablesbar (S. 204–206, 210–213): Durch die Arbeit mit Spiegeln, bisweilen scharfkantig im Innern ihrer Hand verborgen, erweitert Hannah Villiger das Bildgefüge um eine polyperspektivische Komponente. Das scharfkantige Glas impliziert eine zwiespältige Metaphorik und erzählt vom Bedürfnis, den inhaltlichen Fokus zu verändern. Attribute wie afrikanische Stoffe, Flasche oder Glas werden in die Bilder eingebaut, auf denen immer wieder – meist wie ein zusätzlicher Bildgegenstand behandelt – ihre behaarte Scham zu sehen ist. Der Versuch, ihre neue Lebenform, ihre Sexualität und ihre Faszination für die afrikanische Kultur in die Arbeit zu integrieren, gestaltet sich als ein heikles Unterfangen. Es scheint, dass Hannah Villiger zuviel auf einmal will, dem Bedürfnis Konkretes zu erzählen nicht widerstehen kann und sich dabei mehr als nur einmal im Rhetorischen verliert. Gleichwohl sind auch in dieser Werkphase eindrückliche Arbeiten entstanden: vor der Scham gekreuzte Beine, ein gelber Untergrund (S. 185); eine Hand, Bauch und Scham nur knapp verdeckend (S. 184); eine Hand auf dem Boden zwischen den sprungbereiten Füssen abgestützt (S. 186). In den einfachen Konstellationen findet Hannah Villiger ihre aus dem Bild geratene Mitte wieder.26

Machine Célibataire

Aus der Perspektive einer von Kompromisslosigkeit geprägten Haltung ist die Arbeit, die Hannah Villiger in der etwa zeitgleichen Weihnachtsausstellung in der Kunsthalle Basel präsentiert, zentral. Wenn man nichts anderes tut, als den eigenen nackten Körper zu fotografieren, ist es naheliegend, die Kamera auch an die intimsten Zonen zu führen. Tatsächlich finden sich in den Arbeitsbüchern immer wieder Überlegungen zu der Frage, wie sie ihre Sexualität in ihre Arbeit integrieren könne. Nun hatte die Künstlerin ab 1988 begonnen, neben den Einzelwerken Blöcke zu konzipieren, die sie aus sechs, zwölf oder mehr einzelnen Fotografien zusammenstellte. Sie wurden durchgängig numeriert. Mittlerweile bei der Nummer Sechs angelangt, bringt Hannah Villiger endlich den Mut auf, Vulva und Klitoris während des Fotografierens zu stimulieren und in einem zwanzigteiligen Grossformat zu zeigen.Das Bildensemble bewegt sich hart an der Grenze zur Pornographie. Die riesenhaft vergrösserten Hautlappen, das rote Fleisch wecken zwar wenig Begehren, einen letzten Rest von Obszönität werden sie indessen nicht los. Es sind weniger die Tabuisierungen, die – zumindest aus heutiger Sicht – den Umgang mit Block VI erschweren, als vielmehr die gerade in diesem Bereich prägenden Bildkonventionen. Während es Hannah Villiger bis dahin über die Arbeit mit Körperfragmenten gelang, sich von herkömmlichen Darstellungen des weiblichen Körpers abzusetzen, entspricht ihre bildnerische Strategie im Zusammenhang mit der eindeutigen Motivik von Block VI mit einem Mal einer der bevorzugten Praktiken der Pornographie. Wenn auch die Künstlerin die Bilder so organisiert, dass sich ihr Geschlechtsteil den Betrachtern nicht als verführerisches Lustzentrum darbietet, sich also der funktionalisierten Lesart der Gattung entzieht, bleibt das Assoziationsfeld doch so eindeutig, dass es Mühe macht, die Bilder in einem anderen Kontext zu lesen. Interessant ist indessen die Tatsache, dass sich in Block VI der autoerotische Aspekt, der allen Bildern Hannah Villigers zumindest als Subtext implizit ist, konkretisiert. Das Motiv der „machine célibataire“, welches die masturbierende Künstlerin heraufbeschwört, ist im Hinblick auf das Selbstverständnis Hannah Villigers von zentraler Bedeutung. Dass eine weibliche Künstlerin ein maskulin geprägtes Privileg für sich beansprucht, einen autoerotischen Akt andeutet, der nicht auf Verführung ausgerichtet ist, sondern sich vollkommen selbstreferentiell erfüllt, entspricht einem ebenso präzisen wie mutigen Statement. Wenn Hannah Villiger notiert, „Schneller, aggressiver, sexueller.Einsam – mit sich“27, dann stellt sie diese Arbeit auch in den Zusammenhang mit der für sie massgebenden Problematik, sich im Spannungsfeld zwischen Kunst und Leben zu behaupten.

„Leidenschaft ist meine Existenz“

Die mehrteiligen Fotoblöcke, auf die sich Hannah Villiger immer mehr zu konzentrieren beginnt, bedeuten eine ganz wesentliche Differenzierung und Erweiterung der künstlerischen Konzeption. Sie weisen ihr auch einen Weg aus der Krise. Die erste, konkret mit „Block“ bezeichnete Arbeit entsteht 1988. Doch bereits vorher, beispielsweise bei der zweiten Präsentation des anlässlich ihrer ersten Ausstellung in der Kunsthalle Basel gezeigten Bilderzyklus von 1980/81, beginnt Hannah Villiger Bilder auf der Wand zu gruppieren.Die ersten Blöcke, die um 1988 entstehen, geben sich recht verhalten. Block I folgt dem aus der Skulptur abgeleiteten Prinzip der Mehransichtigkeit. Einzelne Körperteile wie Arme, Beine, die rechte oder die linke Brust, der Halsansatz oder Teile von Gliedern und Rumpf wurden aus einer verhältnismässig statischen Perspektive, frontal oder aus dem Profil aufgenommen und anschliessend zu einem Panorama ausgelegt. Die Ganzheit, die Block I suggeriert, basiert auf der Simultaneität mehrer Ansichten, die auf kompositorischer Ebene zu einer bildhaften Einheit zusammengefügt sind. In der Wiederholung und Aneinandereihung ähnlicher Körperausschnitte, zum Beispiel die Achselhöhlen in Block III, 1988, erschliessen sich überraschende Bildformen, die die Einheit des Körpers zugunsten neuer kompositorischer Prinzipien aufbrechen. In der Vervielfachung erschliesst sich Hannah Villiger einen Weg, die konkrete Identität, oder wie sie selber formuliert, die „Individualität“ ihres Körpers zugunsten einer „Überindividualität“28 zu intensivieren und diese damit auch zu brechen. Die unmittelbare Verortung im realen Raum, der bereits für die Einzelarbeiten massgebend war, erfährt in den Blöcken eine bewusste Steigerung und zieht endlich auch jene Erweiterung und Öffnung nach sich, um die sie sich in den Einzelarbeiten der Jahre 1988 und 1989 bemühte. „Der die Bilder umgebende Raum, greift in die Aufteilung des Blocks ein. Die Bilder sollen stark untereinander verbunden sein, sodass sie eine deutliche Einheit bilden“29, beschreibt Hannah Villiger das Prinzip der Arbeiten, die 1990 einen neuen Höhepunkt erreichen. So ist die zärtlich gelöste Intimität, die sich zum Beispiel in Block XX und Block XXV, beide 1990, vermittelt, als ein Reflex auf ein Oberflächenspiel zu verstehen, das von ruhigen Bewegungsmomenten bestimmt wird. Die Körperglieder umfangen sich in den Einzelbildern in zärtlicher Berührung und fügen sich wie bei einem Liebesakt zu einer rhythmisch bewegten Ganzheit: Körperhaut und Bildhaut verschmelzen in der Intensität eines heftig pulsierenden Atems. Es ist nicht von ungefähr, dass diese Arbeiten mit der ersten Zeit der Liebesbeziehung zwischen Hannah Villiger und Joe Kébé zusammenfallen. In ihnen vermittelt sich nicht nur eine ausgelebte, sondern eine erfüllte Sinnlichkeit und Sexualität, die Denken, Handeln und Fühlen gleichermassen erfasst. In diesen Arbeiten, die zum Beeindruckendsten gehören, was Hannah Villiger überhaupt je geschaffen hat, scheint sich ihr Wunsch, Leben und Werk – intensiv gelebte Körperlichkeit und eine ebensolche künstlerische Arbeit – in eine Einheit zu bringen, endlich zu erfüllen. Wenn sie in ihrem Arbeitsbuch notiert: „Leidenschaft ist meine Existenz“30, dann bezieht sich dies demnach auf alle Bereiche ihres Seins, auf die Kunst ebenso wie auf ihr Leben.

Karriere – Bekannte Unbekannte

Am 2. April 1991 kommt Hannah Villigers Sohn Yann zur Welt. Erstaunlicherweise hat die Künstlerin nie eine Arbeit produziert, welche die Schwangerschaft thematisiert31 – Hannah Villiger aber war es letztlich nie darum gegangen, ihr eigenes Leben zu dokumentieren. Erlebtes Leben ist Ausgangspunkt, nicht aber Inhalt ihrer Arbeit. Die Tatsache, dass sie nun eine Familie zu versorgen hat – ihr Mann Joe Kébé erhält in Frankreich keine Arbeitsbewilligung –, bedeutet natürlich eine erhebliche Belastung. Trotz der Beteiligung an wichtigen Ausstellungen geht Hannah Villigers Karriere recht zäh voran. Es ist die Zeit der grossen Einbrüche im Kunstmarkt, und Ausstellungen in Galerien bleiben, was ein längerfristiges Engagement anbelangt, bis 1994 alle ergebnislos. Mit ein Grund für den vor allem international unbefriedigenden Erfolg mag vielleicht auch die Tatsache sein, dass die Fotografie in den späten achtziger und in den frühen neunziger Jahren nach wie vor eine Aussenseiterposition besetzt und die Sammler abwartend und skeptisch sind.

Gleichwohl, in der Schweiz hat sich Hannah Villigers Arbeit zu Beginn der neunziger Jahre als beinahe schon klassische Position etabliert. 1994 wird sie zusammen mit Pipilotti Rist als Vertreterin der Schweiz an die Biennale von São Paulo eingeladen. Für die sternförmige Ausstellungsarchitektur zeichneten die Architekten Herzog & de Meuron verantwortlich. Retrospektive Ausstellungen in den Kunstmuseen von Zug und St. Gallen belegen nicht nur den Respekt, den man ihrem Werk entgegenbringt, sondern stehen auch für die ungebrochene Aktualität ihres Schaffens. Dass es Hannah Villiger dennoch nicht gelingt, sich in einem internationalen Kunstbetrieb zu etablieren, hat weniger mit ihrer Arbeit, denn mit der Tatsache zu tun, dass es ihr – zumindest zu Lebzeiten – nicht gelingt, die Möglichkeiten des Betriebes effizient zu nutzen. Diesbezüglich erweist sich auch Paris, ihr neuer Lebensmittelpunkt, als ungünstig. Ihr Leben dort beschränkt sich im wesentlichen auf Privates und die Arbeit im Atelier, während sie sich für ihre Karriere weiterhin an der Schweiz orientiert. Unter dieser Perspektive ist es nicht weiter verwunderlich, dass Hannah Villiger 1992 einen auf vier Jahre befristeten Lehrauftrag, den ihr Jürg Stäuble an der Bildhauerklasse der Basler Hochschule für Kunst anbietet, akzeptiert. Die Auseinandersetzung mit jungen Studentinnen und Studenten sagt ihr sehr zu, sie hat Spass an ihrer neuen Aufgabe, findet gleichzeitig aber immer weniger Zeit für ihre Kunst.

„Es ist, als ob ich eine Figur modellieren würde“

Die mehrteiligen Fotoblöcke, an denen Hannah Villiger nun fast ausschliesslich arbeitet, haben den Vorteil, dass sie im Ordnen, Hin- und Herschieben der einzelnen Bilder auch auf Arbeitsschritten beruhen, die irgendwo besser mit ihrer von äusserer Beanspruchung geprägten Lebensführung zusammengehen als die intensiven Fotositzungen im Atelier.

Zu Beginn der neunziger Jahre steigern sich die anfangs eher ruhigen Bewegungsmomente nach und nach zu einer performativen Dimension. In Block XVI, 1991/92, zum Beispiel, scheint das Bildgefüge zu wanken. Das Zusammenspiel der aus einer über dem Kopf gehaltenen Kamera fotografierten Teilbilder suggeriert eine tänzerische Dramaturgie, einmal langsamere, dann wieder schnellere Drehungen. Die wechselnde Farbigkeit des Untergrundes, Rot, helles Grün und etwas Blau, unterstützt den Eindruck einer ausgelassenen, leicht taumelnden Bewegung.Eine weitgehend gewandelte Gestimmtheit manifestiert sich rund ein Jahr später in Block XXX, 1993/94, den Hannah Villiger an der Biennale von São Paulo und in der Galerie Peter Kilchmann in Zürich zeigt. Das Licht ist härter, theatralischer geworden, und die Körperteile winden und räkeln sich wie ein fremdes laszives Wesen um die horizontale Achse des Bildes (S. 224–225).

Das harte, theatralisch wirkende Licht prägt ab 1993 nicht nur die Blöcke, sondern auch Einzelbilder und die Zweierkombinationen, die jetzt neu entstehen. Dieses Licht hat einen eigenartigen Effekt. Die hart gegen einen schwarzen Grund gesetzten Körperteile verbinden sich zu reliefartigen Gebilden. Die Bilder artikulieren sich als virtuelle Plastiken, als Produkte einer skulpierenden Hand. Obwohl die Wahrnehmung des eigenen Körpers aus der Perspektive eines Gegenübers immer eine wesentliche Komponente von Hannah Villigers Arbeit war, beginnen die Bilder mit einem Mal, statt von der Nähe zu sich selber, von Distanz zu erzählen. Die zarte Aura, das atmosphärische Gefüge, das sich aus dem in die Fläche gesetzten Zusammenspiel des Volumens sich berührender Körperteile und dem realen Raum ergab, ist zugunsten einer Haltung zurückgetreten, die den eigenen Körper wie fremdes Material in ein dunkles Bildquadrat setzt und Formen aus Fleisch baut. „Ich fotografiere um meinen Körper herum, ich kann verformen, Ausschnitte wählen, es ist, als ob ich eine Figur modellieren würde.“32 Die Körpermitte ist selten zu sehen, die Extremitäten dominieren und fügen sich zu Ganzheiten, denen bisweilen etwas Bedrohliches anhaftet. Diese Bedrohlichkeit hat im wesentlichen mit einer Monumentalität zu tun, die zunehmend bildbestimmend wird. Obwohl Hannah Villiger schon früh mit überlebensgrossen Formaten gearbeitet hat, zogen sie den Betrachter unmittelbar in die raumgreifende Bildanlage mit ein. Bei den Arbeiten, die um 1995 entstehen, scheint indessen ein Impuls aufzukommen, der in genau die entgegengesetzte Richtung weist. Hannah Villiger schliesst die Betrachter aus, etabliert eine bewusste Trennlinie zwischen einer privat erlebten Körperlichkeit und ihrer Kunst.

„Was gibt’s mehr als Liegen, Sitzen, Stehen, sich Bewegen? Tot sein. Absent sein. ... Die Liebe zu sich, zu Männern, zu Frauen, zu Tieren“33

Wer weiss, in welche Richtung sich Hannah Villigers Schaffen weiterentwickelt hätte? Welche Gefahrenzonen sie noch betreten, welche Entdeckungen sie dabei gemacht hätte? Als Hannah Villiger 1997 im Alter von 45 Jahren viel zu jung nach einem weiteren Aufflammen ihrer hartnäckigen Lungenkrankheit an einem Herzversagen stirbt, findet sich viel Angefangenes in ihrem Atelier: Städtebilder, aus dem Fenster ihrer in einem Hochhaus an der Rue Esquirol in Paris gelegenen Wohnung aufgenommen (S. 245); aus sorgsam fotografierten Stoffteilen gebildete Blöcke (S. 258–261), die von einer Freude an Farben, von Lebens- und Liebeslust erzählen; Modelle für Skulpturen, die nun vergeblich auf ihre Vollendung warten. 

Kunst und Leben, Sehnsucht und Erfüllung

Aus einer kunsthistorischen Perspektive betrachtet gehört Hannah Villiger einer Generation an, die zwar auf den Errungenschaften des Minimalismus und Postminimalismus aufbaut, deren abstrakten Konzeptualismus aber ins Leben zurückrettet, ihm Fleisch und Blut und damit eine neue Relevanz verleiht.

Eine zentrale Rolle kommt Hannah Villiger auch im Zusammenhang mit einem weiblichen Selbstverständnis in der Kunst zu. Interessanterweise scheint sie sich diesbezüglich besser in den Kontext einer jüngeren Generation einzuordnen als die etwas älteren Künstlerinnen wie Carolee Schneemann, Valie Export oder Ulrike Rosenbach. Dies vor allem deshalb, weil sie sich nicht an einer Geschlechterproblematik orientierte, sondern sich schlichtweg darüber hinwegsetzte und mit ihrer Kunst eine grundsätzliche physische und psychische Autonomie in Anspruch nahm. Der Vereinnahmung des weiblichen Körpers, wie sie unserer Kultur implizit ist und tagtäglich in den Medien bekräftigt wird, hat sie sich auf souveräne Art entzogen. Darin unterscheidet sie sich auch von einer jüngeren Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die vorzugsweise eine durch die Allgegenwart der Medien gebrochene Wirklichkeitserfahrung artikulieren. Während Künstlerinnen und Künstler wie Pipilotti Rist, Ugo Rondinone, Vanessa Beecroft oder Jeff Koons Selbstkonzeptionen formulieren, die unter der Perspektive der Glücksversprechungen der Werbung schillernd geworden sind, insistiert Hannah Villiger glaubwürdig auf der Authentizität ihres Körpers und der Einmaligkeit ihrer Person. Obwohl der Kunstanspruch der Fotografie beinahe so alt ist wie das Medium selbst, konnte sie sich erst innerhalb der letzten Jahre im Kunstkontext etablieren. Dies hat im wesentlichen mit einer Neukonzeption zu tun, die das Medium endgültig von dem Makel des Angewandten und Dokumentarischen befreite. Nicht anders als die fotografischen Arbeiten eines Thomas Ruff oder Andreas Gurski, die aus einer Wechselwirkung mit traditionellen künstlerischen Formen hervorgehen, nahm auch die Bildhauerin Hannah Villiger eine Neubestimmung des Mediums vor. Sie gehört damit einer Generation an, die Neuland betreten und eine Pionierleistung erbracht hat, von denen jüngere Künstler heute selbstverständlich profitieren.Hannah Villiger war zweifelsohne eine der ganz wichtigen Künstlerinnen ihrer Generation. Sie hat sich nicht gescheut, immer weiter zu gehen, voranzuschreiten, ohne zu zaudern, sich immer wieder neue Herausforderungen zu suchen und Neubestimmungen vorzunehmen. Die Spannung zwischen Kunst und Leben, Sehnsucht und Erfüllung ist denn auch das Thema eines Werks, das einen Anspruch formuliert, der grundlegender und aktueller nicht sein könnte. Hannah Villiger hat sich die Freiheit genommen, sich ins Leben zu stürzen – mit allen Konsequenzen.


Fussnoten

  1. Dieser Ausdruck stammt von Bice Curiger. Vgl. den Wiederabdruck ihres 1981 verfassten Katalogbeitrags auf S. 74 dieser Monografie. ↩︎
  2. Arbeitsbuch, 25.4.1990.
    Hannah Villiger hinterliess rund 50 Arbeitsbücher, in denen sie, vor allem in jüngeren Jahren, neben künstlerischen Überlegungen auch Persönliches notierte. Später beschränkte sie sich auf künstlerische Notizen. ↩︎
  3. Silber, Alex, Transformer (Ausst.-Kat.), Kunstmuseum Luzern, Luzern 1974, o. S. ↩︎
  4. Rut, ihrer langjährigen Freundin, hat Hannah Villiger im übrigen auch das „H“ am Ende ihres Namens zu verdanken, was ihm nicht nur ein kompaktes Aussehen verleiht, sondern auch die Richtung seiner Lesbarkeit verdoppelt. Bisweilen benutzte sie für die beiden „N“ in der Mitte ihres Namens sogar eine spiegelverkehrte Schreibweise. Das Spiel mit Dualitäten, die zugleich auch in sich geschlossene Ganzheiten sind, ist für Hannah Villigers Denken bezeichnend. Es prägt auch den späteren Umgang mit ihrer Kamera als einem mit ihr identischen Gegenüber. ↩︎
  5. Es liegt auf der Hand, dass Hannah Villiger die Ausstellungen im Kunstmuseum Luzern regelmässig verfolgte. Besonders die Ausstellung von Gilbert & George 1972 muss sie beeindruckt haben, klebte sie doch die Einladungskarte in ihr Arbeitsbuch und verwies auch noch Jahre später auf die frühe Auseinandersetzung mit dem Künstlerpaar. ↩︎
  6. Theo Kneubühler vergleicht die Situation in der Schweizer Provinz mit jener an der US-amerikanischen Westküste oder derjenigen in Turin, wo sich, gerade weil es sich um Randzonen mit einem schwachen kulturellen „establishment“ handelt, wichtige künstlerische Impulse ausbilden und Neuerungen entwickeln konnten. Vgl. Kneubühler, Theo, „Die Schweizer Kunstlandschaft (eine Skizze)“, in: Kunst: 28 Schweizer, Luzern 1972. Wiederabdruck in: Wismer, Beat, und Kunz, Stephan, Rücksicht: 40 Jahre Kunst in der Schweiz, Aargauer Kunsthaus Aarau, Aarau 2000, S. 146–159. ↩︎
  7. Widmer, Heiny, 4.1: Jean Pfaff, Heiner Richner, Jürg Stäuble, Hannah Villiger (Ausst.-Kat.), Aargauer Kunsthaus Aarau, Aarau 1980, S. 69. ↩︎
  8. Die Präsentation in der Kirche wurde als problematisch empfunden, und Hannah Villiger musste sich einen anderen, weniger exponierten Ort suchen. ↩︎
  9. Arbeitsbuch, 2.4.1976. ↩︎
  10. Widmer, a. a. O., S. 70. ↩︎
  11. Arbeitsbuch, 13.9.1977. ↩︎
  12. Harlekin Art in Wiesbaden genoss damals einige Beachtung. Neben Projekten mit Fluxus-Künstlern wie Nam June Paik, zeigte sie in den späten siebziger Jahren u. a. Künstler wie Ulay/Abramovic oder Jürgen Klauke. ↩︎
  13. Vgl. Widmer, a. a. O., S. 70. ↩︎
  14. Das Polaroidbild wurde bereits 1948 erfunden, fand bezeichnenderweise aber erst rund 25 Jahre später Eingang in die Kunst. Ganz anders heute, wo sich die Künstler bezüglich neuer Technologien an vorderster Front bewegen. ↩︎
  15. Arbeitsbuch 1983, o. D. ↩︎
  16. Villiger, Hannah, „Zu meinem Buch Neid“, Jahresbericht des Basler Kunstvereins, Basel 1986, S. 25. Wiederabdruck in dieser Publikation, S. 135. ↩︎
  17. Arbeitsbuch 1983 ↩︎
  18. Villiger, a. a. O., S. 25. ↩︎
  19. Ebd. ↩︎
  20. Ebd. ↩︎
  21. Helmut Federle zählte zu Hannah Villigers engerem Freundeskreis. ↩︎
  22. Arbeitsbuch 1983, o. D. ↩︎
  23. Vgl. Villiger, a. a. O., S. 24. ↩︎
  24. Vgl. Meyer-Thoss, Christiane, „Die Bildhauerin Hannah Villiger“, in: Parkett Nr. 8, Zürich 1986, S. 82–86. ↩︎
  25. Arbeitsbuch, 30.1.1990. ↩︎
  26. Anders als bei den vorausgegangenen Ausstellungen tut sich auch die Kritik im In- und Ausland mit dieser Ausstellung schwer. Als dieselben Werke wenig später in der Zabriskie Gallery in New York gezeigt werden, fällt die Kritik gar vernichtend aus. Aus heutiger Sicht ist es höchst bedauerlich, dass Hannah Villiger gerade in einer schwächeren Werkphase nach New York gerät und sich damit auch einige Möglichkeiten in den USA verbaut. Immerhin erkennt auch Roberta Smith, die eine Rezension für die New York Times verfasst, die Qualität der auf einfachen Konstellationen beruhenden Arbeiten Hannah Villigers. ↩︎
  27. Arbeitsbuch, 10.5.1988. ↩︎
  28. Villiger, a. a. O., S. 25. ↩︎
  29. Arbeitsbuch, 5.2.1990. ↩︎
  30. Arbeitsbuch, 20.2.1990. ↩︎
  31. Im Ausst.-Kat. Frammenti Interfacce Intervalli (Genua 1992) ist ein Polaroid ihres schwangeren Bauchs abgebildet. Die Arbeit wurde nie vergössert. ↩︎
  32. Hannah Villiger in einem Ateliergespräch mit Barbara Zürcher, in: Zürcher, Barbara, „Hannah Villiger“, in: Nicht nur Körper, hg. von Isabelle Malz u. a., Verlag Lars Müller, Baden 1997, S. 48. ↩︎
  33. Arbeitsbuch, 30.7.1987. ↩︎